Norgau von Lisbeth Rieckmann

Norgau

von Lisbeth Rieckmann

 

Samland – welche schönen und schmerzlichen Erinnerungen werden bei diesem Namen wach. Für mich ist Samland gleich Norgau, diesem kleinen Dorf mit 600 Einwohnern alles in allem, wo ich die glücklichsten Jahre meines Lebens verbrachte. Und wo war dieses kleine Paradies zu finden?

Nun, man stieg in Königsberg am Nordbahnhof in die Samlandbahn und fuhr bis Marienhof. Dort stand auf einem Nebengleis ein „Zügle“ der Fischhausener Kreisbahn, bestehend aus einer Lokomotive, die gewaltige Rauchwolken in die frische Waldluft paffte, einem Packwagen, einem Personenwagen dritter Klasse (Holz) und einem Personenwagen halb dritter und halb zweiter Klasse (letztere rotes Plüschpolster), von allen kurz „Schniefke“ genannt. Neben dem Zug stand, untersetzt und stiernackig und ewig nach Alkohol duftend, der alte Hildebrandt, seines Zeichens Zugschaffner. Nicht daß Ihr glaubt, der alte Hildebrandt sei ein Säufer gewesen, beileibe nicht; aber sein Platz während der Fahrt war der offene Packwagen, wo es mächtig zog, da war es nur zu natürlich, daß auf den Endstationen Fischhausen und Marienhof die unterwegs verlorengegangenen Kalorien mittels eines doppelstöckigen Korns wieder aufgefüllt wurden.

Er stand also da und seine grauen Augen glupten unter dichten, buschigen Brauen hervor und musterten jeden Reisenden, der sich dem Schniefke näherte. Er kannte alle Leute aus allen Dörfern, er wußte genau, wohin die Reisenden wollten. Ja und dann stieg man ein, natürlich Holz, ein ohrenbetäubender Pfiff, und ab ging es. Zuerst ein Stück durch Wald, dann endlose Weidegärten und dann wieder ein Pfiff, die erste Station: eine Wellblechbude, halb verschließbarer Schuppen, halb Wartehalle, eine Holzschild daran: Kotzlauken. Welch ein Name!

Ein Pfiff und weiter ging es, wieder durch Weidegärten und Felder und schon war der nächste Bahnhof da: Arissau. Hier stand auf einem kurzen Nebengleis ein Güterwagen mit Milchkannen, denn in Arissau war die Molkerei. Durch ein umständliches Rangiermanöver wurde er dem „Schniefke“ einverleibt, ein Pfiff und weiter gings mit Volldampf voraus nach Thierenberg. Hier gab es zwei richtige Gleise, ein Bahnhofsgebäude aus roten Ziegeln und eine Lagerhalle der An- und Verkaufsgenossenschaft. Hier dauerte es etwas länger, denn Thierenberg war ein Kirchdorf, hier war die Post und die Raiffeisenbank. Gleich hinter dem Bahnhof kreuzt eine Chaussee das Gleis, und kaum hat der Mann mit der roten Mütze seine Kelle erhoben, da fährt der „Schniefke“ mit lustigem Bim-bim-bim-bim über die Chaussee weg weiter ins Land.

Dann ist es endlich soweit. Bremsen, Zischen, halt, die nun schon bekannte Wellblechbude, diesmal mit dem Schild „Norgau“, wir sind da. So meint jedenfalls der Ortsunkundige, der zum ersten Mal hierherkommt. Er steigt aus und sieht zunächst nichts als daß, genau wie in Thierenberg, gleich hinter dem Bahnhof eine Chaussee das Gleis kreuzt. Es ist die Straße Drugehnen – Fischhausen. Auf die schüchterne Frage an den „Alten“ zieht der an den Enden seines martialischen Schnauzbartes, glupt den Frager von unten her an und brummt dann: „Geh`n Se man die Chaussee immer gradeaus un denn links.“ Also los! Das Gelände ist leicht hügeliges Ackerland, die Straße steigt erst ein wenig, neigt sich dann wieder und plötzlich geht links ein Landweg ab, tief eingefahrene, im Lehm verhärtete Wagenspuren, an der Seite ein schmaler Trampelpfad. Der Weg neigt sich zwischen den Hügeln, voraus sieht man grünes Buschwerk. Da muß es sein. Beim Näherkommen neigt sich der Weg noch mehr, das grüne Buschwerk entpuppt sich als Kronen alter Bäume, ein Transformatorenhaus und wir sind in Norgau.

Gleich links des Weges der nun Rumpelpflaster hat, ein großer Bauernhof, rechts das dazugehörige Insthaus weiß getüncht, mit einem Gärtchen davor, in dem riesige Sonnenblumen über den Zaun nicken, spielende Kinder auf dem Hofplatz, denn es sind Ferien. „Wo die Schule ist? – Nur immer gradeaus am Teich vorbei und noch weiter.“ Wie lang so ein Weg ist, wenn man ihn zum ersten Mal geht. Wieder ein Bauernhaus, dann rechts ein Gasthaus und dann der Teich, nicht sehr breit, aber langgestreckt neben der Straße, durch niederes Buschwerk von ihr getrennt. Ein Bohlensteg führt schräg über das Wasser zum jenseitigen Ufer, wo ein einzelnes Haus steht. Man denkt an eine chinesische Zeichnung, obwohl dies alles viel gröber, erdgebundener ist. Wieder rechts und links ein Bauernhaus und dann ist das Pflaster plötzlich zu Ende, der Lehmweg neigt sich zu einem lustigen Bächlein hinab, aber noch davor ist auf der rechten Seite ein abgeplatteter Hügel und darauf steht die Schule, ein weißgetünchter Neubau, davor und rechts ein riesiger Schulhof. Von der Straße steigen ein paar Stufen die Böschung hoch zu einem Pförtchen. Ein Weg führt an der Fahnenstange vorbei zum Eingang, der verschlossen ist. Es sind ja Ferien. Auf der Rückseite des Hauses war dann der Eingang für die „Lehrersch“. So lernte ich Norgau 1938 kennen. Und das war`s was ich so sehr daran liebte: dieses Eingebettetsein der wenigen Bauernhäuser in diese Hügellandschaft gab den Bewohnern ein Gefühl der Geborgenheit, des Zuhauseseins. Jenseits des Bächleins stieg der Weg wieder langsam an, auf der linken Seite stand noch ein letztes Insthaus, dahinter Weidegärten, dann hügelan Kornfelder, und oben begann der Wald von Compehnen, ein Randteil jenes großen Waldgebietes am Nordufer des Frischen Haffs, dem Metgether Forst. Die „Schniefke“-Bahnlinie lief parallel zu dem Landweg zwischen den Hügeln in den Wald hinein zum Bahnhof Compehnen.

Das war unser Privatbahnhof, wie wir immer sagten. Denn von unserem Schulhaus über den Weg, dann schräg durch die Weidegärten und ein kleines Stück auf dem Bahngleis bis zu der Wellblechbude waren knapp 10 Minuten zu laufen, während man zum Bagnhof Norgau fast eine halbe Stunde brauchte. Hatte man sich morgens zur Einkaufsfahrt nach Königsberg ein wenig verspätet und der Zug war in Compehnen schon angefahren, dann pfiff der alte Hildebrandt, der Zug hielt und wir kletterten noch atemlos vom schnellem Lauf hinein. Aber das tat er nur wenn er guter Laune war oder bei Leuten die er besonders gern mochte. Dafür bekam er dann in Marienhof auch einen „Doppelstöckigen“ extra spendiert. Nur im Winter war es nichts mit unserem Privatbahnhof. Dann lag der Schnee in den Weidegärten knietief und es gab kein Durchkommen nach Compehnen. Dann stapfte man zum Nachbarn, wartete auf den Milchschlitten und fuhr mit nach Norgau.

Dieser Compehner Wald hatte es uns ganz besonders angetan und ich bin mit meinen Kindern oft darin herumgestreift, obwohl es verboten war, denn der Wald gehörte einem Grafen von der Goltz, einem sehr ungnädigen Herrn gegenüber denen, die er in seinem Wald erwischte. Einmal im Herbst ließ er mich vor seinem Jagdwagen herlaufen zum Wald heraus, nach einem eingehenden Verhör, ob ich auch nicht unerlaubterweise Pilze oder Beeren gesammelt hätte. Diese Unterhaltung hat mich köstlich amüsiert, denn ich ließ ihn völlig im Unklaren darüber wer ich war und woher ich kam. aber der Wald ließ mich nicht los, immer wieder mußte ich hin. Er war sehr reich an Wild; Rehe, Hirsche und sogar Elche gab es darin, von Hasen ganz zu schweigen.

Ja, unser Wald war reich an wunderbaren Geheimnissen, auf jedem Spaziergang entdeckte man etwas Neues, bisher noch nicht Gesehenes. Jeder Besuch mußte nach dem Frühstück oder dem Nachmittagskaffee mit uns in den Wald um seine Schönheit zu erleben und jeder war gleich uns von seinem Zauber gefangen.

Wenn man dann im Sommer einen Waldzipfel durchwandert hatte und aus dem düsteren Schatten der Tannen heraustrat in die sonnenüberflutete Landschaft, dann stand man wieder auf einem Hügel, von dem der Blick weit über die im leichten Sommerwind wogenden Kornfelder schweifte hin zum Horizont, wo ein glitzernder Silberstreifen aufleuchtete, die Ostsee. soweit konnte man von dem Hügel hinter dem Wald bei Norgau sehen, wenn das Wetter klar war.

So könnte ich noch viel von Norgau erzählen, doch ich will nun Schluß machen, denn ich glaube, den ganzen Zauber dieser Landschaft kann nur der richtig verstehen, der ihn selbst erlebt hat und so möchte ich mit einem Satz schließen, den ein Freund meines Mannes anläßlich eines Besuches bei uns auf eben jenem Hügel sprach. Er stammte aus Stöcken an der Niederelbe und war zum ersten Mal in Ostpreußen. Dies waren seine Worte:“Was ist das nur für ein gesegnetes Land, dieses Samland!“.