Pojerstieten
– Landleben im Samland –
Die Mehrzahl der Bevölkerung des Kirchspiels Kumehnen lebte von der Landwirtschaft. Im Gegensalz zu anderen Gebieten Ostpreußens gab es im Samland nur wenige adlige Güter, Besitzungen, die der Orden den adligen Militärs als Entschädigung für ihre Dienste in den zahlreichen Kriegen überlassen mußte. Diese Güter, hauptsächlich im östlichen Ostpreußen gelegen, hatten Größen bis zu 9.000 ha an landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Nutzfläche.
Hier im Kirchbezirk gab es etliche Großbetriebe; so bezeichnete man Betriebe, die mehr als 100 ha landwirtschaftliche Nutzfläche bewirtschafteten. In ganz Ostpreußen hatten ca. 39 % aller Betriebe diese Größe. Aber auch diese Fläche ließ keineswegs ein üppiges Leben zu. Bevor zu Beginn des 19. Jahrhundert Gründüngung bekannt wurde und etwas später der große Chemiker Justus von Liebig den Kunstdünger schuf, gab es nur den Stallmist. In der Dreifelderwirtschaft wurde Winter- und Sommergetreide angebaut, im dritten Jahr blieb es unbestellt. Hackfrüchte oder Futterpflanzen kannte man auch noch nicht. Der Viehbestand bestimmte die Größe der Ländereien, die bewirtschaftet werden konnten. Eine Vergrößerung des Viehbestandes konnte zu Problemen führen, mußte doch das Vieh durch den Winter gebracht werden. Solange es keine Hackfrüchte gab, blieb Stroh und Heu als einziges Futter.
So waren die Erträge bis zu Verwendung des Kunstdüngers sehr gering. Von einem gesäten Korn erntete man durchschnittlich kaum mehr als drei Körner. Beim Hafer war der Ertrag am geringsten. Hafer war jedoch für die eigene Ernährung – man erstellte daraus Hafergrütze – sehr wichtig.
Zu den größten Dörfern des Kirchspiels gehört der malerisch am Forkener Fließ gelegene Ort Pojerstieten. Einst gehörte er mit 796 ha neben Medenau zu den größten Ortschaften vom westlichen Samland. Die Schule wurde unter Friedrich Wilhelm I. (1713 — 1740) errichtet. Im Jahre 1939 hatte das Dorf 367 Einwohner. In amtlichen Unterlagen heißt es Pojerstieten bei Kumehnen, bestand doch im Kirchspiel Wargen ein Dorf gleichen Namens, das 1906 in Elchdorf umbenannt wurde.
Hier in Pojerstieten liegt ein Hof, der bei dieser Beschreibung des ländlichen Lebens die Hauptrolle spielt, er dürfte typisch für diese Region sein. Horst Zachrau – geboren 1933 in diesem Dorf – dessen Vorfahren auch aus dieser Gegend stammten, lieferte viele Informationen für diesen Beitrag.
Dieser Hof Pojerstieten Nr. 7 war mit 167 ha Nutzfläche ein landwirtschaftlicher Großbetrieb. Um 1800 nur 2 Hufen (ca.34 ha) groß, wuchs der Betrieb durch Trockenlegung, durch Regulierung des Forkener Fließes und Zukauf des Nachbarhofes (Weiß‘sche Hof). Das alte von Friedrich Wilhelm I. errichtete Schulhaus wurde gekauft, nachdem es 1938 nicht mehr den Ansprüchen genügte und durch ein neues ersetzt wurde. Es diente nun als Wohnhaus für die Bediensteten.
Die Bewirtschaftung der Ländereien und die Versorgung des lebenden lnventars machten viele Arbeitskräfte erforderlich: Ein Melkermeister mit Untermelkern sorgte sich um da der 40 Milchkühe. Die erzeugte Milch mußte er zur Molkerei nach Kumehnen transportieren. im Sommer zweimal, im Winter nur einmal täglich
Der mit Eisenrädern ausgestattete Lanz Bulldog mit 35 PS, er ersetzte ein Pferdegespann, wurde von dem Treckerfahrer geführt. Die Arbeitspferde wurden den Gespannführern übertragen, der 1. Gespannführer hatte als „Kämmerer‘ zusätzliche organisatorische Aufgaben wahrzunehmen. Ein Gespann – wohl müßig zu erwähnen – bestand aus vier Pferden, dem Sattelpferd, Beipferd und den Vorpferden. Der Gespannführer hütete vorbildlich „seine“ Pferde. Chef in der hofeigenen Stellmacherei und im Pferdestall war der Stellmacher. Allen Bediensteten, den Deputanten, wurden vom Hofeigner die sogenannten Insthäuser, gestellt. Wenn sie auch nicht groß erschienen, bestanden sie doch aus einer Küche, mit einem gemauerten Herd, geeignet zum Brotbacken, einer Stube mit Kachelofen für die langen Winter und einem Schlafzimmer, das teilweise unterkellert war. In Nebengebäuden hielten sich Deputantenfamilien Tiere: Eine Kuh, einige Schweine, Hühner, Gänse und Enten.
Die Arbeitsleistung der Bediensteten wurde hauptsächlich mit Naturalien, genannt Deputat, abgegolten. Der Hof lieferte Getreide für die Tiere zur eigenen Brotherstellung, Heu und Stroh sowie Brennmaterial. Das zur Verfügung gestellte Land diente als Garten und Kartoffelland. Eine Weide stand für die Kühe aller lnstleute bereit. Der monatlich übergebene Geldbetrag war gering, reichte wohl aus um fehlende Lebensmittel wie Zucker, Salz zu kaufen und Kurzwaren und Textilien zu erwerben. Sporadisch erschien auch ein dreirädiges Fischauto, bezahlt wurde oft mit Eiern und Geflügel.
Schulentlassene Jugendliche im Alter von 15 bis 21 Jahren wurde gegen Entlohnung als „Hofgänger“ angelernt. Die Frauen halfen beim Rübenverziehen und der Ernte mit, wenn ein Hofgänger gestellt wurde, mußte die Ehefrau nicht mitarbeiten. Das war gewöhnlich dann der Fall, wenn keine Kinder in der Familie waren.
Der Lebensstandard der Familie des Hofbesitzers, in den Kirchenbüchern wird als Berufsstand „Besitzer“ geschrieben, war ähnlich bescheiden. Das traf auch für die vier anderen Höfe von Pojerstieten zu. Lediglich ein Hofbesitzer war stolzer Besitzer eines Autos. Man fuhr mit der Kutsche oder benutzte das Fahrrad wie die Bediensteten.
Was gab es sonst noch für Berufe in diesem beschaulichen Dorf? Der Schlachter hatte hauptsächlich in den Wintermonaten volles Programm, wurden von ihm die Hausschlachtungen durchgeführt, er schlachtete – in den meisten Fällen Schweine – und zerkleinerte sie. Das Wurst- und Schinkenmachen erledigte die Hausfrau.
Hauptaufgabe des Dorfschmiedes war das Beschlagen der vielen Pferde. Daneben arbeitete hier ein Sattler sowie ein Schneider.
Am Dorfrand befand sich der Krug Mattern genannt „Wupptich“, neben Trinkbarem wurden auch Lebensmittel und Kurzwaren verkauft.
Der Lehrer der einklassigen Dorfschule hatte seine Dienstwohnung und natürlich auch seinen Stall für einige Tiere; wie das bei allen hier Lebenden der Fall war.
Zurück zu dem Hof Pojerstieten Nr. 7, der für viele Menschen Sicherheit und Auskommen bedeutete. Niemand mußte um seinen Arbeitsplatz fürchten, im Alter und Krankheitsfall wurde jeder versorgt. Zum Besitzer hatte man ein gutes Verhältnis, man war aufeinander angewiesen.
Der Hof bestand aus etlichen Gebäuden: ein langgestreckter Kuhstall nebst zwei Hochsilos, der Pferdestall mit der Stellmacherei und Scheunen. Das „Herrenhaus“ hatte ein ähnliches Aussehen wie die Insthäuser war jedoch größer, hatte eine große Küche und bot auch Platz für Gäste. Zwei Dienstmädchen unterstützten die Hausfrau. Petroleumlampen erleuchteten die Räume, da noch die Elektrizität fehlte. Das Leben war ähnlich bescheiden wie das der lnstleute. Ein Unterschied wurde sichtbar, wenn Geburten bevorstanden. Während in den lnsthäusern die Hebamme erschien, wurde die Ehefrau des Besitzers nach Königsberg in die Privatfrauenklinik Dr. Abernethy gebracht.
Die Jahreszeiten bestimmten den Rhythmus des Landlebens. Mit dem Frühling wurden die Tage länger, die Nächte kürzer. Das Forkener Fließ verwandelte sich zu einem gewaltigen Strom. Die nicht gepflasterte Dorfstrasse wurde kaum passierbar.
Schreie der nordwärts ziehenden Wildgänse waren hörbar. Die Weißstörche kehrten von ihrem Winterquartier zurück. Die Menschen, die lange in Abgeschiedenheit gelebt hatten, sowie die Natur erwachten.
Der Sommer machte das Forkener Fließ zu einem beliebten Badegelände Die Dorfjugend hatte viel Freude beim Angeln von Fischen und Flußkrebsen Häufige starke Gewitter waren an de Tagesordnung. Besonderes Erlebnis waren die Ausflüge der gesamten Belegschaft mit dem buntgeschmückten Leiterwagen; man wagte sich sogar bis nach Rauschen zu fahren.
Dann der Herbst, der den Einsatz aller verlangte. Der Arbeitstag war zwölf Stunden lang. Nur der Sonntag war Ruhetag. Schulgänger durften, auf den Sattelpferd sitzend, den Erntewagen von Hocke zu Hocke weiterfahren. Später dann die gemeinsame Treibjagd in Dorf, ein Erlebnis sowohl für Jäger als auch für die Treiber. Das ,, Schüssel treiben“ fand im Gasthof Mattern statt.
Der Winter brachte eine dicke Schneedecke, der Dorffluß bescherte nach langen Frostnächten der Jugend eine große Eisfläche. Selbsterstellte Schlittschuhe und aus Tonnenbrettern gefertigte Ski ließen teuere Sportgeräte vergessen. Längere Fahrten konnten nur mit Pferd und Schlitten zurückgelegt werden.
Harte Arbeit brachte das Dreschen, die Lokomobile, vom Treckerfahrer betrieben und teilweise mit Steinkohle befeuert, trieb die Dreschmaschine an. Tagelang wurde die sonst winterliche Ruhe durch das Surren und den Geräuschen der Dreschmaschine unterbrochen. Ein besonderer Tag war dann, wenn sich der Schlachter einstellte, aus dem gemästeten Schwein wurde selbst Wurst — meist in Gläsern eingeweckt – und Schinken hergestellt, das ein Jahr zu reichen hatte. Gemütliche Wärme breitete der Kachelofen, wenn draußen die Winterstürme tobten.
So verging Jahr für Jahr im Rhythmus der Natur.
Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten brachte einen Einschnitt in dem beschaulichen Leben. Die Wehrpflicht bedeutete für viele Bedienstete Abschied nehmen. Natürlich konnten die Familien in ihren Insthäusern weiterleben. Die ältesten Söhne mußten Arbeit des Vaters übernehmen; spielen war kaum mehr möglich. Die Erziehung der Kinder lag nun allein bei der Mutter aus ihnen korrekte, fleißige und selbstlose Menschen mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu machen – Tugenden, die man allgemein den Bewohnern Ostpreußens nachsagte.
Eine Hitleriugend wurde gegründet, man trug Uniform. Für den Krieg wurden immer mehr Männer benötigt. Gummireifen mußten für militärische Zwecke abgeliefert werden. Nach dem Polenfeldzug wurden als Ersatz für eingezogenen Hofarbeiter 11 polnische Gefangene beschäftigt, die bis zum Kriegsende zur Zufriedenheit arbeiteten.
Dann näherte sich ständig der Kriegsgegner. Vorbereitungen für die Flucht wurden getroffen. Der Besitzer, der zugleich Bürgermeister war, stellte den Deputantenfamilien, wenn das Familienoberhaupt anwesend war, frei, den Zeitpunkt der Flucht selbst festzulegen. Zwei Familien mußten sich ein 2er-Gespann teilen. Noch bevor am 21. Januar 1945 die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Deutschland durch eine russische Panzerspitze erfolgte, konnten einige Instleute mit Fuhrwerk in den Westen Deutschlands flüchten. Die noch nicht Geflohenen wurden immer unruhiger, aber man vertraute dem Hofbesitzer, er würde schon den richtigen Zeitpunkt und Fluchtweg festlegen. Am 30. Januar 1945 verließen dann noch rechtzeitig alle Hofbewohner mit drei Pferdeschlitten den Ort Pojerstieten in Richtung Pillau, einen Tag bevor der Ort durch die Russen eingenommen wurde.
Hier trennten sich die Wege. Eine Familie gelangte auf dem Wasserwege über Gotenhafen nach Saßnitz und danach mit der Bahn nach Bremen, wo man bereits am 18. Februar 1945 ankam. Diese Region sollte auch gleichzeitig die neue zweite Heimat werden.
Die Familie des Besitzers konnte erst 1948 westdeutschen Boden betreten. Nach der Flucht von Pillau über Gotenhafen gelangte man nach Kopenhagen. In Dänemark schloß sich ein dreijähriger Lageraufenthalt an.
Karl Willamowius,